Verkommt kulturelle Bildung zum eintönigen Gesang?
Verkommt kulturelle Bildung zum eintönigen Gesang?
Der Bregenzerwald erlangte weithin Anerkennung als Kulturregion. Seine beeindruckende Architektur, die Tradition, die vielfältigen Kultureinrichtungen und nicht zuletzt die zahlreichen Musikfestivals und -veranstaltungen prägen diese Region. Die Quarta Jugendphilharmonie, :alpenarte, die Schubertiade, Krumbach Klassik und viele weitere Angebote ziehen Jahr für Jahr Tausende Menschen in den Bregenzerwald und tragen wesentlich zur Lebensqualität der Einheimischen bei.
Politische Vertreter bekunden seit Langem ihre Wertschätzung für musikalische Bildung, und das hat den Bregenzerwald zu dem gemacht, was er heute ist - eine Region, in der eine vielfältige Kulturszene blüht, in der fruchtbare Ideen gedeihen, die Politik die Rolle der Ermöglicher:in übernimmt und viele Menschen sich ehrenamtlich engagieren. Kulturelle Bildung fördert die Gemeinschaft, die Kreativität, das Selbstbewusstsein, die Identifikation und vieles mehr - in dieser Hinsicht herrscht sicherlich Einigkeit.
Die entscheidende Frage, die sich nun stellt, ist: Wo haben Kinder noch die Möglichkeit, mit Musik in Berührung zu kommen?
Ein Beispiel verdeutlicht das Dilemma: In der Volksschule Großdorf, 2. Klasse, stehen 4 Stunden für Bewegung und Sport sowie eine Doppelstunde Religion auf dem Stundenplan. Der Musikunterricht erstreckt sich auf lediglich 1 Stunde, und der Chor fiel in diesem Jahr bedauerlicherweise Kürzungen zum Opfer, die mit finanziellen Einsparungen begründet wurden.
Wenn Eltern ihren Kindern, angesichts der gekürzten schulischen musikalischen Bildung, ein musikbezogenes Freizeitangebot bieten wollen, stoßen sie auf unüberwindbare finanzielle Hürden. Während Sportvereine ihren Mitgliedern ein attraktives Angebot für etwa 50 € im Jahr offerieren - inklusive zweimal wöchentlichem Fußballtraining - verlangt die Musikschule Bregenzerwald stolze 600 € pro Kind und Jahr. Nach Gesprächen mit Eltern ist es in vielen Fällen einfach keine realistische Option, Musik als Freizeitaktivität zu wählen, besonders angesichts der derzeitigen finanziellen Belastungen. Sport und Kultur sollten nicht in Konkurrenz zueinander stehen, sondern als gleichwertig angesehen werden. Doch die Realität sieht anders aus: 4 Stunden Bewegung und Sport stehen einem teuren, schwer finanzierbaren Freizeitangebot von nur 1 Stunde Musik gegenüber.
Volksschulangebot, Beispiel 2. Klasse Volksschule Egg-Großdorf:
4 Stunden Bewegung und Sport
Freizeitangebot für Kinder, Beispiel Egg:
Fußballverein, Badmintonclub, Turnverein, Tennisclub, Kletterverein, Volleyballclub, Tanzeck, Karateclub, Schiclub, Wing Tsun
Teilweise mehrmals wöchentlich Training
Kosten zB. Fußball rund € 50 / Jahr
Volksschulangebot, Beispiel 2. Klasse Volksschule Egg-Großdorf:
1 Stunde Musik, Chor fiel Kürzungen zum Opfer
Freizeitangebot für Kinder, Beispiel Egg:
Musikschule rund € 600 pro Jahr
Kinderchor Singlinge, jeweils 1 Stunde alle 14 Tage, € 50 / Jahr
Der Kontakt mit Musik und Kultur im Kindesalter trägt nicht nur zur Persönlichkeitsentwicklung bei, sondern hat auch den Vorteil, Barrieren und Vorurteile gegenüber der (Hoch-)kultur von vornherein abzubauen. Kinder von heute sind das Publikum der Zukunft, die künftigen Ehrenamtlichen und Akteur:innen von morgen - genau sie gilt es zu begeistern.
Lassen Sie mich an dieser Stelle betonen, dass ich das schulische Angebot im Bereich Bewegung und Sport sowie sämtliche Freizeitangebote sehr schätze. Sportvereine investieren viel Ehrenamt, bereichern die Region und sollten keinesfalls in Konkurrenz zur Musik und Kultur stehen. Mit diesem Schreiben möchte ich:
Aufzeigen, dass das Angebot in einem ungesunden Ungleichgewicht steht.
Denkprozesse anregen.
Im Idealfall Kooperationen anstreben, um Musik für alle zugänglich zu machen.
Ich lade Sie herzlich dazu ein, diesen Prozess mitzugestalten. Hierfür habe ich ein Padlet eingerichtet, auf dem Sie weitere Denkanstöße, Kooperationsmöglichkeiten, Ideen, Beispiele und mehr posten können. Als nächster Schritt ist ein moderierter Austausch zu diesem Thema mit Entscheidungsträger:innen und Gestalter:innen geplant. Die Terminvorschläge werden in einer separaten E-Mail folgen.
Die Inhalte des Prozesses umfassen:
Wie möchten wir zukünftig mit diesem Thema umgehen?
Wie können wir einen niedrigschwelligen Zugang zur Musik ermöglichen?
Wie können Kulturvereine von Sportvereinen lernen, insbesondere im Hinblick auf Jugendarbeit?
Wie steht die finanzielle Basis von Sport und Kultur im Vergleich zur geleisteten Ehrenamtlichkeit?
Link zum Padlet: Verkommt die musikalische Bildung zum eintönigen Gesang?
Zu guter Letzt möchte ich auch kritisch hinterfragen, warum die Region in die Struktur des Kulturbüros investiert, wenn gleichzeitig an anderer Stelle die Mittel gestrichen werden.
Mit freundlichen Grüßen,
Veronika Sutterlüty
Foto Ronja Svaneborg, Fiddle School 2020