Melanie Berlinger.

"Cubibulum curiositatis" (Wunderkammer)

Radierungen, tlw. handcoloriert, 20cm x 20cm, 2024

ungerahmt 180,- Euro

gerahmt 220,- Euro

 
 
 

CUBICULUM CURIOSITATIS

(die Wunderkammer)

Ein poetischer Zugang zu Sammlungen

 

Der Schwerpunkt von Melanie Berlinger liegt im Tiefdruck, ihre Arbeiten druckt sie in der eigenen Werkstatt im Bregenzerwald. In ihrem künstlerischen Werk widmet sie sich hauptsächlich botanischen Illustrationen und präzise gezeichneten Insekten. Die Botanik und das Insekt als ästhetische Logik, als Vereinigung von Form und Farbe - in dieser Komposition, umgesetzt in diversen Tiefdrucktechniken, entstehen detailreiche Arbeiten, die teilweise handkoloriert sind. Der genaue Blick auf nahezu Alltägliches und Ungewohntes schafft Kunstwerke, die in ihrer detailgenauen und präzisen Darstellung bestechen.

Ab 1550 gab es europaweit einen politischen, gesellschaftlichen und geistigen Wandel. Es wurden in allen möglichen Bereichen neue Entdeckungen gemacht: Astronomie, Buchdruck, Architektur, Medizin usw. Die humanistische Strömung setzte ie Interessen des Menschen in den Mittelpunkt, somit entstand auch ein neues Interesse an der griechischen Antike. An allen Höfen Europas wurden Gegenstände bzw. „Elemente des Wissens“ zusammengetragen, die von dieser sich verändernden Welt zeugten. Der Schwerpunkt lag auf dem Außergewöhnlichen, dem nicht alltäglichen. Für diese Sammlungen entstand ein neuer Typus Raum – die Wunderkammer. Diese willkürlich zusammen getragenen Sammelsurien, ohne ersichtliche Ordnung oder Klassifizierung, waren die Vorläufer des Museums. In alten Katalogen und Verzeichnissen findet man Federn neben Steinen und Krokodile neben einer Rose von Jericho abgebildet. Der Kosmos wurde interpretiert als ein Beziehungsnetz, wo alles miteinander verbunden ist. Es ging noch nicht um Gattungen oder Klassifizierungen, sondern um Analogien. Alles war ein großes Ganzes, es gab keine getrennten Wissenschaften wie heute. Die Besucher:Innen sollten ins Staunen versetzt werden. Neugierde war sehr positiv bewertet, denn man konnte dadurch Wissen erlangen.

Die Sammlungen in Wunderkammern waren oft vielfältig und exzentrisch. Präparierte Insekten und Pflanzen aller Art bildeten einen Großteil des breiten Spektrums an Exponaten, die in diesen Sammlungen zu finden waren. Diese Darstellungen von Pflanzen waren oft in Form von botanischen Illustrationen, Gemälden, getrockneten Pflanzen, Samen, Herbarien oder sogar Miniatur-Gärten in speziellen Behältern präsentiert.

Die höchste Kategorie der Kunstkammer, so die These, war das Sammeln, Sehen, Assoziieren, Visualisieren und Denken. Diese Kategorien leiteten die Kooperationen von den Wissenschaften und den Künsten ein. Denn Visualisierung, also Zeichnung, ist nicht nur Dokumentation. Sie ist ein Weg zu einem vielschichtigen Verständnis des Gegenstandes. Ein Weg, der diese Gegenstände in ihrem ganzen biologischen, phänomenologischen und politischen Umfang wahrnimmt. Die Zeichnung ist nicht nur Ausdruck dessen was wir sehen, sondern eine Schule des Sehenlernens - Sehen im weitesten Sinn - nämlich Einblick gewinnen. Die wissenschaftliche Illustration hat im Laufe der Geschichte dazu beigetragen, Naturalien aller Art zu katalogisieren, zu identifizieren und zu verstehen. Sie ist sowohl eine künstlerische als auch eine wissenschaftliche Disziplin und bleibt eine wichtige Form der Wissensvermittlung und des kulturellen Erbes.

Detailgenaue Zeichnungen von Pflanzen und Pflanzenteilen spielen in der Botanik nach wie vor eine große Rolle. Auch modernste Möglichkeiten der Fotografie und Bildbearbeitung können die Kunst der Botanischen Illustration nicht ersetzen. Das Verhältnis zwischen otanischer Kunst und Wissenschaft ist keine abgeschlossene Historie, sondern eine stellenweise lebendige Geschichte, welche die Gegenwart prägt und formt. Sie ergänzt moderne Technologien und bringt eine ästhetische Dimension in die wissenschaftliche und kulturelle Wertschätzung von Pflanzen.

Melanie Berlinger findet und sammelt ihre Fundstücke während der Gartenarbeit oder bei Spaziergängen. Hierbei richtet sich die Idee des Sammelns von Fundstücken auf die „Geste des Sammelns als Prozess“, anschließend konzentriert sie sich auf dessen Ergebnis, die Sammlung. Getrieben von der systematischen Suche nach etwas, oder manchmal nur angetrieben durch pure Neugier, entsteht ein kleines Archiv, das nach und nach durch Zeichnungen und anschließend durch Radierungen visualisiert wird.

„Der Sammler sieht in den Dingen mehr als sie sind. Er erkennt in ihnen
verborgene Schätze und Geheimnisse.“
Walter Benjamin

Die Arbeit mit den Händen wurde von den Sammlern der Wunderkammern stark gefördert, auch Werkzeuge und erste Druckerpressen gehörten zu den Sammelobjekten. Die Wunderkammern schlossen sich mit Werkstätten zusammen, um das vorhandene Wissen zu bündeln. Es entstanden die ersten Erfindungen der Automaten und neue Techniken wurden erforscht.

Das Handwerk steht bei Berlinger im künstlerischen Prozess seit jeher stets im Vordergrund. In der bildenden Kunst ermöglicht das Schaffen mit den Händen eine direkte, kreative Verbindung zwischen der Künstlerin und dem Kunstwerk. Es verleiht dem Schaffensprozess eine taktile Komponente, die als persönliche künstlerische Handschrift gelesen werden kann. Insbesondere in Disziplinen wie der Druckgrafik spielt das Handwerk eine entscheidende Rolle im kulturellen Erbe der Kunst. Die stete Pflege des Handwerks trägt zur kulturellen Kontinuität, zur Wertschätzung und zur Erhaltung einer alten Technik bei. Doch Berlinger hat sich nicht nur der klassischen Radierung verschrieben, sondern nutzt auch neue Erkenntnisse des Tiefdrucks, und überführt die Botanische Kunst mittels Photopolymerplatten in ein zeitgenössisches Druckmedium.

Ähnlich wie in frühen Wunderkammern, in denen man über manche Kuriositäten staunte und versuchte diese zu in Beziehung zu anderen Objekten zu setzen, lädt die Serie die Betrachter:Innen dazu ein, selbst Assoziationen zwischen dem Inhalt und der Bedeutung des Dargestellten, eigenen Erfahrungen mit dem Abgebildeten und dem wirklichen Objekt zu machen.

Ende des 17. Jhdt. wurde den Wunderkammern ihre Wissenschaftlichkeit abgesprochen, es fand eine Revolution der Wissenschaften statt und das griechische Naturbild wurde ersetzt. Der Kunstbegriff erfuhr eine tiefgreifende Wandlung und es gab nun Wissenschaften, die sich durch die Anwendung von Mathematik äußerten. Die Erde wurde zu einem Himmelskörper erklärt und stand nicht mehr im Mittelpunkt. Viele Wissensgebiete, die seit der Antike Bedeutung hatten, werden disqualifiziert – die Wunderkammer verliert ihre Daseinsberechtigung und der Begriff wird abgewertet. Heute keimt wieder ein Interesse an Wunderkammern auf, der moderne Mensch sucht nach einer allumfassenden Erklärung der Welt in der wir leben, es wird wieder nach den sinnlichen Qualitäten gesucht, wie sie Aristoteles beschrieben hat. Es herrscht eine Sehnsucht danach, die Welt im Griff zu haben. Wissenschaft und Technologie sind soweit fortgeschritten, dass niemand mehr alles beherrschen kann. Im 16. Jahrhundert spiegelt die Wunderkammer die Beziehung zur Welt wieder. Wie sieht diese heute aus, ist die heutige Wunderkammer das Internet?